Iwano-Frankiwsk (ots) –
Als am 24. Februar Russland die Ukraine angriff, begann das Unvorstellbare: ein Krieg mitten in Europa im 21. Jahrhundert. Diesem fielen seitdem mindestens 7.199 ukrainische Zivilisten zum Opfer, darunter 438 Kinder. Außerdem gab es laut Angaben der OHCHR mindestens 11.756 zivile Verletzte, darunter 854 Kinder. Rund acht Millionen Menschen flohen aus der Ukraine in andere Länder.
Der Krieg in der Ukraine hatte sich schon seit Jahren angebahnt, weshalb die SOS-Kinderdörfer bereits vor Beginn der Kampfhandlungen viele Vorsichtsmaßnahmen treffen konnten. Die Hilfsorganisation arbeitet seit 2003 in der Ukraine und ist seit 2012 in der Region Luhansk aktiv, wo bereits 2014 der Donbass-Krieg ausbrach. Diese Erfahrung half dem Team der SOS-Kinderdörfer, sich auf die jetzige Kriegssituation vorzubereiten. Rund 273.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr innerhalb der Ukraine von den SOS-Kinderdörfern unterstützt, über 11.000 ukrainische Geflüchtete erreicht die Hilfe in anderen europäischen Ländern.
Serhii Lukashov ist der Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine und schildert im Interview seine Erfahrungen in einem Jahr Krieg:
Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt?
Es war ein Schock, aber keine Überraschung! Wir wussten seit Herbst 2021, dass es einen Krieg geben wird – obwohl das schwer zu glauben war. Deshalb hatten wir bereits vor der Invasion viele Vorkehrungen getroffen.
Welche?
Wir haben Vorräte in unseren Sozialzentren in der Region Luhansk gelagert und bereiteten Lebensmittelpakete vor. Wir begannen mit den Vorbereitungen für die Evakuierung unserer Pflegefamilien und Kinder.
Wann konnten Kinder, Familien und Mitarbeiter:innen aus den Programmen der SOS-Kinderdörfer evakuiert werden?
Zwei Wochen vor dem Krieg konnten wir unsere Pflegefamilien aus den Regionen Kiew und Luhansk davon überzeugen, in den Westen der Ukraine zu ziehen. Wie alle anderen wollten sie erst nicht an die Gefahr glauben, und daher ihre Heimatorte nicht verlassen. Als die Invasion begann, waren die meisten unserer Kinder aus den Pflegefamilien bereits in Sicherheit. Dann boten unsere Kolleg:innen von den SOS-Kinderdörfern in Polen an, all diese Familien aufzunehmen. Unsere und die polnischen Mitarbeitenden helfen ihnen, sich an die neue Situation zu gewöhnen und weiterzumachen, ohne sich aufzugeben. Denn wir wissen nicht, wann wir sie nach Hause holen können. Aber diese Zeit wird kommen. Bis dahin sollen die Kinder lernen, sich weiterzuentwickeln, Freunde treffen, erwachsen werden. Kurz: Sie sollen leben!
Rund 284.000 ukrainischen Menschen konnten die SOS-Kinderdörfer innerhalb und außerhalb der Ukraine seit Kriegsbeginn helfen. Womit zum Beispiel?
Wir halfen bei Evakuierungen und Umzügen in vorübergehende Unterkünfte, mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung sowie medizinischer und psychologischer Hilfe. Psychologische Hilfe wird oft unterschätzt. Aber es ist so wichtig, ein Kind direkt in den ersten Tagen nach psychisch belastenden Erfahrungen sofort zu unterstützen. Seit Kriegsbeginn haben wir 17.000 Kinder und Eltern psychologisch unterstützt. Wir haben auch mobile Psychologen-Teams, die zum Beispiel zu den im Land Vertriebenen fahren.
Wird die Hilfe ausgeweitet?
Ja! Wir haben bereits sieben Familienstärkungszentren in der West- und Zentralukraine eingerichtet und sind dabei weitere zu organisieren. Dort gibt es Pädagogen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Psychotherapeuten und Anwälte, die als multidisziplinäres Team arbeiten, um die Menschen individuell zu unterstützen. Außerdem sind dort Strom, Heizung, Internet sowie Laptops verfügbar, um zum Beispiel Hausaufgaben machen zu können. Familien erhalten auch Generatoren und Powerbanks, um diesen Winter zu überstehen.
Wie ging es Ihnen und den anderen Mitarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer?
Wir alle sind Menschen. Natürlich hatten wir Angst. Auch wir mussten mit unseren eigenen Familien fliehen und uns in Sicherheit bringen. Unsere Mitarbeiter:innen haben aber – während sie sich selbst gerettet haben – auch weiterhin Menschen in Not gerettet.
Wie zum Beispiel?
Einige saßen in verschiedenen Städten fest, die unter schwerem Beschuss standen. Obwohl sie nicht in der Lage waren, sich selbst zu evakuieren, koordinierten sie aus den Kellern heraus die Evakuierung anderer Menschen.
Was ist Ihre Botschaft?
Als Ukrainer möchte ich sagen, dass ich Europäer bin. Unser Land kämpft für die Umsetzung der europäischen Prinzipien, für Menschenrechte, Demokratie und die Zusammenarbeit zwischen allen Nationen. Wir danken den Menschen in Europa, dass sie ukrainische Kinder beherbergen, aber wir möchten, dass die Kinder nach Hause zurückkehren. Die Kinder, die jetzt traumatisiert sind, werden jahrelange Hilfe brauchen. Wir hier in der Ukraine sind bereit, diese Hilfe zu leisten. Wir bleiben hier, trotz Krieg!
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